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Für uns Menschen ist ein Sinn enorm wichtig. Er gibt uns einen Grund, morgens aufzustehen, motiviert uns, eine sinnhafte Karriere zu verfolgen und am Ende empfinden wir ein gutes Gefühl der Erfüllung. (Individuelle) Ziele sind außerdem wichtig für den gesellschaftlichen Fortschritt.

Ich habe recht früh herausgefunden, dass es beim Sinn des Lebens nicht die „eine Wahrheit“ gibt. Für jeden, der danach sucht, ist die Antwort anders; und viele suchen nicht einmal danach. Aber für mich war immer klar, dass ich etwas brauchte, wonach ich streben kann. Und als Zahlennerd brauchte ich darin auch ein quantifizierbares, messbares Element. Wie sonst könnte ich wissen, dass ich den größtmöglichen Fortschritt in die richtige Richtung mache?

In diesem Artikel möchte ich verschiedene Ideen und Konzepte erforschen, die für mich Puzzleteile waren und mir dabei halfen, meinen individuellen Purpose zu finden und zu definieren. Außerdem werde ich beschreiben, wie ich meinen Fortschritt in Richtung dieses Ziels quantifiziere und messe.

Erste Gedanken

Für ein tieferes Verständnis des Begriffs Purpose passt dieses paraphrasierte Zitat von Simon Sinek sehr gut. Ursprünglich spricht er über den Purpose von Organisation, aber es lässt sich auch sehr gut auf den des Einzelnen übertragen:

If you own a car and don‘t have gas, you can‘t go anywhere. But the purpose of a car is not to have gas, its purpose is to go somewhere. And fuel helps you get there.

Equivalently, the purpose of a company [or a person] is to accomplish something, to advance a greater cause and to contribute to society. And money helps you get there — but it’s not its purpose.

In diesem Sinne ist es auch aus evolutionärer Sicht sinnvoll, nach etwas Größerem zu streben. Sei es, ein Mammut zu jagen, einen Schlafplatz vorzubereiten oder Potentiale in anderen Menschen zu entfalten. Die Menschen, deren Gehirne sie durch die Ausschüttung von Dopamin für das Verfolgen und Erreichen eines Ziels belohnten, hatten in der menschlichen Entwicklung bessere Überlebenschancen. Dieser Hormonausstoß ist auch der Grund, warum ein Purpose Teil von Modellen ist, die sich mit dem Thema Glück beschäftigen, wie z.B. das PERMA+ model.

Im Zusammenhang mit dem eigenen Purpose finde ich es außerdem spannend, den Golden circle von Simon Sinek und die Maslowsche Bedürfnispyramide heranzuziehen.

Kapitel 1: Struktur geben

Der erste strukturierte Ansatz für den „Sinn des Lebens“ auf den ich zufällig gestoßen bin, sind die Big Five for Life von John Strelecky. Die Idee dahinter ist, Erfolg für sich selbst zu definieren, indem man die fünf wichtigsten Dinge findet, die man tun oder erleben möchte, bevor man stirbt. Wenn man diese am Ende seines Lebens getan, gesehen oder erlebt haben, kann man darauf zurückblicken und sich sagen, dass man seine Big Five verwirklicht hat und das eigene Leben daher „erfolgreich“ war. Das liegt daran, dass man den Erfolg für sich selbst definiert hat  und nicht auf der Grundlage der Erwartungen anderer.

Leider beschreibt John Strelecky nicht, wie man sich seinen persönlichen Big Five nähern kann. Trotzdem hat mich das Konzept gereizt und ich versuchte herauszufinden, was es für mich war, das ich in meinem Leben tun oder erleben wollte. Also habe ich über Dinge nachgedacht, die mir Spaß machen, die ich gut kann oder von denen ich glaube, dass sie einen inhärenten Wert haben. So bin ich auf meine Big Five gekommen:

  1. Bei allem, was ich tue, steht der Mensch im Mittelpunkt. Ich entfalte Potentiale und inspiriere andere.
  2. Ich ermögliche vielfältige und schöne Erlebnisse.
  3. Ich mache einen positiven Unterschied und setze mich für das Gute ein.
  4. Ich lebe gesund und nachhaltig – für mich und für die Umwelt.
  5. Ich lerne Wissen sowie Fähigkeiten und gehe Projekte an, die mich begeistern.

Das Beispiel aus dem Buch von John Strelecky ist konkreter als meine Big Five und es enthält einige spezifische Ziele, wie z. B. eine Fremdsprache fließend zu sprechen. Für mich war es sehr schwierig, mich auf fünf konkrete Aspekte festzulegen, denn es gibt so viel mehr was ich gerne lernen oder erleben möchte.

Das Problem mit meinen persönlichen Big Five war also, dass sie zu abstrakt und umfassend waren. Daher wusste ich nicht, wo ich anfangen oder worauf ich mich konzentrieren könnte. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wie ich den Erfolg messen sollte, und wusste daher nicht, ob ich auf dem richtigen Weg zu meinen Big Five war und diese voll ausreizte. Für mich war das besonders wichtig, eben weil meine Big Five so abstrakt formuliert sind.#

Kapitel 2: Vielfalt ermöglichen

Multipotentiality

Einige Jahre später stieß ich auf diesen TED-Vortrag von Emilie Wapnick. Dieser war für mich augenöffnend weil ich zuvor immer etwas naiv davon ausgegangen war, dass sich alle Menschen für so viele Themen und Dinge interessieren wie ich – im Gegensatz zu mir konnten alle anderen einfach damit besser umgehen und ihr Leben auf ein oder wenige Themen konzentrieren. Aber das Gegenteil ist der Fall! Viele Menschen interessieren sich für ein oder wenige Gebiete und sind damit vollkommen zufrieden.

Andere Menschen, wie ich, haben die starke Präferenz, sich mit einer großen Anzahl von verschiedenen Bereichen zu beschäftigen. Diese Erkenntnis hat mir geholfen, mich selbst besser zu verstehen und mich mit anderen darüber auszutauschen.

Für ein besseres Verständnis von Multipotentiality empfehle ich den entsprechenden englischen Wikipedia-Artikel. Es gibt viele verschiedene Typen von Multipotentialites und das Buch Refuse to Choose! von Barbara Sher hat mir geholfen, die Arten und mich selbst besser zu verstehen. Es gibt darüber hinaus konkrete Tipps, wie man ein zufriedenes Leben mit seinen spezifischen Eigenschaften als Multipotentialite führen kann.

Effektiver Altruismus

Ein weiteres Konzept, das ich kennen gelernt habe, ist das des effektiven Altruismus. Es versucht die Frage zu beantworten, wie man Ressourcen (Geld, Zeit oder andere) einsetzt, um den größtmöglichen Fortschritt in Richtung eines Ziels zu erreichen. Diese Ziele können sehr unterschiedlich sein, da sie von der Art und Menge der verfügbaren Ressourcen und den eigenen subjektiven Prioritäten abhängen.

Worauf würdest du dich konzentrieren? Auf die Maximierung der glücklichen Momente für die größte Zahl von Menschen? Oder würdest du versuchen, den Hunger auf der Erde zu reduzieren? Hast du an das Leid der Tiere gedacht? Oder wäre es nicht besser, in die Erforschung und Vorbeugung zivilisationsbedrohender Ereignisse zu investieren?
Es gibt auf diese Fragen keine richtige oder falsche Antwort, denn sie hängt von deinen persönlichen Idealen ab. Die eigenen persönlichen Prioritäten zu finden erfordert viel Lesen und Recherche, denn es erfordert das Verständnis von vielen globalen Herausforderungen vor denen wir stehen. Nur so kann eine Priorisierung der Dringlichkeit der verschiedenen Bereiche erfolgen. Aber das ist natürlich nur notwendig, wenn du diese Herangehensweise sinnvoll und die Themen wichtig findest.

Eine gute Quelle, um in das Thema einzutauchen, ist 80,000 Hours. Diese Plattform bietet viele nützliche Informationen und einen Plan, mit dem du herausfinden kannst, was dir wichtig ist und wie du deine Ressourcen (in diesem Fall insbesondere Zeit) mit einem Maximum an Output investieren kannst.

Für mich persönlich ist effektiver Altruismus ein wichtiges Puzzleteil für meine Ziele, da er die Idee der Output-Maximierung in die Gleichung einbringt. Es geht nicht nur darum, Ziele zu erreichen oder auf eine bestimmte Weise zu leben, wie es bei den Big Five der Fall ist. Es geht darum, größere Ziele anzustreben, zu denen ich möglicherweise einen Beitrag leisten kann. Und es geht darum, diesen Fortschritt zu maximieren.

Es hat mich auch dazu gebracht, über meine persönlichen Werte und Prioritäten in einer strukturierteren Weise nachzudenken, was für das geistige Bild meines Ziels sehr hilfreich war.

Kapitel 3: Fokus finden

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, dass ich die wichtigsten Elemente für mein Ziel kannte. Die Big Five bildeten die Grundlage dafür, wie ich mein Leben leben wollte. Multipotentiality erklärte mir, warum ich so viele verschiedene Dinge wollte, und der Ansatz des effektiven Altruismus half mir, das große Ganze zu sehen. Es fehlte aber noch ein verbindendes Element, der mich die Elemente zueinander ordnen ließ.

Die Zielfunktion

Und dann las ich den Pragmatist’s Guide to Life von Malcolm Collins. Dieses Buch hat mich fasziniert und ich hatte das Gefühl, dass mich jemand versteht. Es stellt ein Konzept vor, wie man ein oder mehrere abstrakte Ziele miteinander in Beziehung setzen und den eigenen Fortschritt maximieren kann. Die Autoren nennen es die Zielfunktion. Das ist ein Begriff aus der Mathematik, der eine Formel beschreibt, die versucht, ihren Ergebniswert durch die Variation der Eingangsparameter zu maximieren.

Dies lässt sich auf die eigene Zielsetzung übertragen, wenn wir herausfinden wollen, wie wir unser Leben leben können, um den größten Ausgabewert (d. h. den Fortschritt in Richtung eines Ziels) zu erreichen. In diesem Sinne ähnelt es in gewisser Weise dem Ansatz des effektiven Altruismus.

Konkret besteht die Zielfunktion aus zwei Elementen: einer Reihe von Zielen, die man anstrebt sowie einer Grundbedingung.

Die Grundbedingung beschreibt Anforderungen, die erfüllt sein müssen, damit die anderen Faktoren überhaupt einen sinnvollen Wert haben. Für mich z.B. ergibt es keinen Sinn, so sehr auf meine Ziele hinzuarbeiten, dass ich in zwei Jahren ausgebrannt bin, denn dann nütze ich niemandem mehr. Abgesehen davon, dass ich dann unglücklich wäre und es mir schlecht ginge. Meine Grundvoraussetzung ist daher, dass ich gesund, glücklich und nachhaltig lebe.

Die anderen Faktoren, die meine Zielfunktion ausmachen, sind solche, die meinen Big Five ähneln: Elemente, die ich für wertvoll halte:

  • neues Wissen zu schaffen und bestehendes Wissen zu verbreiten,
  • unsere ökologische Nachhaltigkeit zu erhöhen,
  • Potenziale in mir und anderen zu entwickeln,
  • vielfältige und schöne Erfahrungen zu ermöglichen und
  • den Menschen helfen, ein glückliches Leben zu führen.

Ich schätze jeden der oben genannten Punkte gleich hoch ein und versuche, den Grad, in dem ich sie erreiche, zu maximieren. Das Schöne an der Zielfunktion ist, dass sich der Fortschritt quantifizieren lässt. Messen wir also ihre spezifische Leistung zwischen 0 und 10, wobei 10 der beste Wert ist. Diese Quantifizierung ist möglich, weil jedes einzelne Element ein Verb enthält (was mir  auch schon bei der Formulierung der Big Five geholfen hat).

Die Grundbedingung spielt eine noch bedeutendere Rolle. Deswegen  habe ich einen Wert für die Grundbedingung zwischen 0 und 1 eingeführt. Der Zweck der Grundbedingungen wird sichtbar, wenn ich die Zielfunktion als Formel aufschreibe:

Summe des Erreichungsgrades der einzelnen Elemente / Anzahl der Elemente * Erfüllungsgrad der Grundbedingung = Grad der gesunden Zielerreichung

Das Ergebnis der gesamten Formel ist eine Zahl zwischen 0 und 10. Wenn die Leistung jedes Elements acht beträgt und meine Grundvoraussetzung perfekt erfüllt ist, wäre das Ergebnis acht. Wenn meine subjektive Bewertung meiner Grundvoraussetzung 0,5 beträgt, wäre das Ergebnis der Formel vier. Diese Logik macht für mich Sinn, denn wenn ich kein glückliches und nachhaltiges Leben führe, bin ich nicht gesund und werde meine Ziele langfristig nicht erreichen.

Natürlich handelt es sich hierbei um eine höchst subjektive Bewertung, die nur so genau ist wie die Formelgestaltung und die Bewertung der Performance. Außerdem macht das Ergebnis nur Sinn, wenn man es mit früheren Ergebnissen vergleicht. Für mich funktioniert es trotzdem, da all das nur mich und meinen Lebenskosmos betrifft.

Anwendung im Alltag

Du fragst dich jetzt vielleicht, wie ich die Zielfunktion tatsächlich im Alltag verwende. Zu meiner Grundbedingung kann ich sagen, dass ich instinktiv weiß, wann etwas falsch läuft und ob ich etwas ändern muss.
Wenn ich mich zum Beispiel zu sehr auf meine Ziele konzentriere, wäre das kontraproduktiv, da es eine Stresszustand erzeugt, der mein Glücksgefühl verringert und somit gegen meine Grundbedingung verstößt.

Den grundsätzlichen Fortschritt auf dem Weg zu meinen Zielen habe ich sichergestellt, indem ich zu jedem Ziel mindestens einen Aspekt in mein Leben integriere, der auf dieses Ziel einzahlt. Zum Beispiel habe ich in meinem Beruf die Möglichkeit, Wissen weiterzugeben und das Potential anderer zu fördern.

Ironischerweise habe ich bei meiner Zielfunktion selten das Bedürfnis nach einer tatsächlichen „Leistungsmessung“. Ich betrachte es eher als ein nützliches Tool bzw. eine Liste, die ich regelmäßig durchgehe, und ich weiß, dass ich jederzeit eine Messung durchführen könnte. Aber dieses Gefühl genügt, um mein Bedürfnis nach einem quantifizierbaren Fortschritt zu erfüllen. Vielleicht war es auch der Prozess des Ausformulierens der Formel, der mir ein notwendiges Maß an Klarheit gebracht hat – und es nie um die tatsächliche Messung ging. Ich kann also sagen, dass ich Ziele brauche, deren Fortschritt messbar ist – und meine Zielfunktion ist genau das. Ich sehe nur kein Bedürfnis, es zu tun.


Photo by Mark Fletcher-Brown on Unsplash

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Autor:in

Julian Leßmann
Julian Leßmann (Berater/Trainer @consensa)

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